Einleitung
Nach einem Schlaganfall, einer Hirnverletzung oder bei neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose steht oft dieselbe Frage im Raum:
Wie kann ich verlorene Bewegungen wiedererlernen?
Die Antwort liegt in einem faszinierenden Prozess des Gehirns – der Neuroplastizität.
Sie beschreibt die Fähigkeit des zentralen Nervensystems, sich durch Erfahrung, Lernen und gezielte Reize neu zu organisieren und zu verändern.
In diesem Artikel erfährst du:
👉 was Neuroplastizität bedeutet,
👉 wann sie nach einem Schlaganfall am höchsten ist,
👉 wie viel Therapieintensität sie braucht,
👉 und wie Physiotherapie diesen Prozess gezielt unterstützen kann – inklusive eines realistischen Patientenbeispiels.
Was bedeutet Neuroplastizität?
Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, neue Nervenverbindungen zu bilden und bestehende umzustrukturieren.
Wenn ein Gehirnareal geschädigt ist – etwa nach einem Schlaganfall – können benachbarte oder gegenüberliegende Areale teilweise die verlorenen Funktionen übernehmen.
Dieser Prozess wird durch Training, Wiederholung und sensorische Reize angeregt.
Man spricht auch von erfahrungsabhängiger Plastizität – das heißt:
Was wir häufig üben, verstärkt sich im Gehirn.
Was wir nicht benutzen, wird abgebaut.
Diese Prinzipien wurden erstmals von Kleim & Jones (2008) in zehn „Grundsätzen der Neuroplastizität“ beschrieben, u. a.:
- Use it or lose it – Nicht genutzte Funktionen schwächen ab.
- Use it and improve it – Durch gezieltes Training verbessern sich Funktionen.
- Repetition matters – Wiederholung ist entscheidend.
- Specificity matters – Nur gezieltes, funktionsnahes Training verändert das Gehirn.
Wann ist Neuroplastizität nach einem Schlaganfall am höchsten?
Nach einem Schlaganfall ist das Gehirn besonders anpassungsfähig – aber nicht unbegrenzt.
Studien zeigen ein „kritisches Zeitfenster“ mit erhöhter Plastizität:
- Die ersten 3 Monate nach dem Schlaganfall gelten als die Phase maximaler Neuroplastizität.
- Besonders zwischen Woche 4 und 12 reagiert das Gehirn am stärksten auf Reize und Training.
- In dieser Zeit können gezielte, repetitive Übungen neuronale Netzwerke am effektivsten reorganisieren.
🧠 Das Gehirn ist in diesen Wochen wie weicher Ton – was man oft und richtig formt, bleibt.
Wissenschaftlich belegt wurde das u. a. durch:
- NIH Critical Time Window Study (2021): Patient:innen, die 2–3 Monate nach Schlaganfall mit zusätzlicher intensiver Physiotherapie starteten, erzielten deutlich bessere motorische Fortschritte als jene, die später begannen.
- Biernaskie et al. (2004): Studien zeigten, dass die Wirksamkeit von Rehabilitation mit der Zeit deutlich abnimmt, wenn das Training zu spät beginnt.
Wie viel Therapieintensität braucht es?
Ein zentrales Prinzip der Neuroplastizität lautet:
„Repetition matters“ – Wiederholung macht den Unterschied.
Doch wie viel ist genug?
Evidenzbasierte Studien liefern klare Hinweise:
- Mehr Therapiezeit bringt mehr Fortschritt.
Eine Meta-Analyse von Kwakkel et al. (Stroke, 2004) zeigte:
Jede zusätzliche Stunde Physiotherapie pro Woche verbessert messbar die Alltagsfunktionen. - Intensive, aufgabenorientierte Übung (mehrere Stunden täglich) ist besonders wirksam in der Frühphase nach Schlaganfall.
- PLoS ONE (Veerbeek et al., 2014) fand: Je höher die Intensität, desto besser die Wiederherstellung von Arm- und Beinfunktionen.
Wie unterstützt Physiotherapie die Neuroplastizität?
Physiotherapie kann gezielt neuroplastische Mechanismen aktivieren, indem sie:
- repetitive, aufgabenorientierte Bewegungen fördert (z. B. Gehen, Greifen, Aufstehen),
- sensorisches Feedback nutzt (Berührung, Spiegeltraining, visuelles Feedback),
- motorisches Lernen anregt (Übungen in verschiedenen Kontexten und Umgebungen),
- Bewegungsvorstellung (Motor Imagery) integriert,
- und Bewegung mit Motivation & Bedeutung kombiniert – denn emotionale Relevanz verstärkt die neuronale Aktivierung.
Wichtig ist:
Bewegung muss bedeutsam, häufig und fordernd sein – nicht perfekt.
Patientenbeispiel: Markus und der Weg zurück auf die Treppe
Markus, 58 Jahre, erlitt vor 10 Wochen einen ischämischen Schlaganfall.
Nachdem er bereits in der Reha gute Fortschritte gemacht hatte, merkte er zuhause, dass er sich beim Gehen und besonders beim Treppe gehen noch unsicher fühlte.
„Ich kann mich inzwischen wieder aufrichten, aber die Treppe schaffe ich kaum. Mein rechtes Bein macht einfach nicht mit.“
Ausgangslage
| Assessment | Ergebnis | Interpretation |
| Fugl-Meyer Assessment (Bein) | 19/34 Punkte | mäßige motorische Beeinträchtigung |
| Timed Up and Go (TUG) | 28 Sekunden | deutlich eingeschränkte Mobilität (Sturzrisiko) |
| 10-Meter-Gehtest | 0,42 m/s | weit unter Alltagsgeschwindigkeit |
| 5-Stufen-Test (Treppe) | 26 Sekunden (mit Hilfe) | stark eingeschränkt |
| Borg-Skala (Belastung) | 8/10 | hohe Ermüdung bei geringer Belastung |
Der linke Fussheber und Kniestrecker zeigten nur 2/5 Muskelkraft (MRC-Skala) – keine vollständige Bewegung gegen die Schwerkraft. Markus kompensierte dies durch eine verkürzte Schrittlänge und indem er das Bein beim Treppe gehen nachzog.
Therapieansatz: Neuroplastizität gezielt nutzen
Da Markus sich noch in der Phase maximaler Plastizität befand, lag der Fokus auf intensivem, aufgabenorientiertem Training mit hoher Wiederholungszahl.
Therapieinhalte:
- Gehtraining mit schrittweiser Reduktion der Hilfsmittel (Rollator → Gehstock → frei) – mit Schrittzähler
- Gezieltes Training auf der Treppe
- Funktionelle Elektrostimulation (FES) des Fusshebers und Kniestreckers
- Visuelles Feedbacktraining zur Korrektur von Bewegungsmustern
- Heimprogramm: 2× täglich 30-45 Minuten gezieltes Bein und Rumpftraining
Gesamtintensität: etwa 3 Stunden aktive Bewegung täglich – inklusive Selbsttraining.
Fortschritte nach 6 Wochen Physiotherapie
| Assessment | Vorher | Nachher | Veränderung |
| Fugl-Meyer Bein | 19/34 | 27/34 | +8 Punkte |
| TUG | 28 s | 16 s | -12 s (≈ 43 % schneller) |
| 10-Meter-Gehtest | 0,42 m/s | 0,78 m/s | +0,36 m/s |
| 5-Stufen-Test | 26 s (mit Geländer) | 14 s (mit Geländer) | -12 s |
| Kraft (MRC) | Fußheber: 2/5 → 3/5; Kniestrecker: 2/5 → 4/5 | +1–2 Stufen | |
| Borg-Skala | 8/10 → 5/10 | subjektiv weniger Anstrengung |
Markus kann heute wieder alternierend Treppen steigen und fühlt sich beim Gehen sicherer.
„Am Anfang dachte ich, das wird nie wieder. Jetzt hole ich mir wieder meinen Kaffee aus der Küche – über die Stufen. Ganz ohne Hilfe.“
Fazit
Neuroplastizität ist die Grundlage jeder funktionellen Rehabilitation.
Das Gehirn bleibt veränderbar – besonders in den ersten Monaten nach einer Schädigung.
Physiotherapie kann diesen Prozess gezielt aktivieren, wenn sie:
- frühzeitig beginnt,
- ausreichend intensiv und repetitiv ist,
- auf alltagsnahe, bedeutungsvolle Bewegungen fokussiert,
- und den Menschen aktiv einbindet.
Je öfter das Gehirn eine Bewegung „übt“, desto stärker werden die Verbindungen, die sie ermöglichen.


